Die Diözese Graz-Seckau, 1218 gegründet, umfasst 388 Pfarren. Diözesanbischof ist seit 2015 Wilhelm Krautwaschl. Mehr zur Diözese
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An der Schwelle entschwinden all meine gewohnten Bilder, all meine Vorstellungen, meine Erfahrungen, meine geistigen Schubladen. An der Schwelle vom regenglänzenden Asphalt auf den roten Teppich, der tief hinein führt in ein Gewölbe. Judenburg. Verein „eingefädelt“. Ich habe mir nicht vorgenommen, das vollkommen Ungewöhnliche zu suchen. Muss ich auch nicht. Es kommt mir mit ganzer Wucht entgegen.
Wir machen uns Bilder von unserer Welt: Ein Verein, der von sich sagt, er fördere Begegnung und Kreativität, der braucht Struktur. Allein dieser Gedanke belegt das unbewusste Einordnen in eigene Erfahrungen. Verein, das ist Struktur in unseren Köpfen. Mit Statuten, Regeln, Abläufen, Abteilungsverantwortlichen. Arbeit mit Menschen verschiedenster Kulturen, unterschiedlichster Altersgruppen, das baut auf Struktur. Auf organisatorische Lenkung. Auf Seniorenstunden. Migrantennachmittage. Asylberatungsstunden. Fein säuberlich getrennt und abgerechnet. Dies alles findet man hier nicht. Hier gibt es keine Trennung der Menschen. Hier werden Interessen gebündelt. Denn mehr als Betriebszeiten findet man nicht bei „eingefädelt“. An manchen Tagen stehen die Öffnungszeiten unter dem Zeichen der sprachlichen Vertiefung, dann wieder unter dem Siegel des kreativen Arbeitens. Und donnerstags, da kommt Monika Fuchs. Und alle wissen: Sie weiß Bescheid, wenn es um behördliche Bescheide geht.
Doch zunächst findet der Besucher hier keine Büros, keine Beratungsräume, keine Stuhlkreise, schon gar nicht die Chefin hinter einem Glaskörper. Zugegeben: Dies alles verwirrt mich. Denn hier gibt es nur den einen Raum, in dem kreativ gearbeitet wird, in dem die Deutschvertiefungen und Mathestunden angeboten sowie Computerschwellenängste abgebaut werden, aber auch Kinderspielrunden stattfinden und schließlich auch Schülern in Englisch geholfen wird. In diesem Raum wird gegessen und getrunken und am Tag meines Besuches eben auch genäht. Und die Chefs sind mitten unter den Menschen. Weil es keine Chefs gibt.
Wie bemerkt, dies alles verwirrt mich. Also mache ich ein Foto. Es zeigt einen kleinen Jungen. Er rennt lachend durch den Raum, ausgestattet mit Besen und Kehrschaufel. Sorgsam entfernt er Stoffteile und Fäden. Dann fotografiere ich eine Frau, die in einer Ecke sitzt, tief im Gespräch mit einer anderen. Sie macht sich Notizen. Gertraud Peinhopf bemerkt meine Verwunderung. Sie seien hier Eins, erklärt sie, „alle sind einer unter allen. Unser Schatz, das sind 27 ehrenamtlich Mitwirkende, das sind unsere Sponsoren und Gönner, das ist unser Vermieter und alle Firmen, die uns materiell oder finanziell unterstützen. Unser Schatz, das ist unser Hauptsponsor, die Katholische Kirche, und nicht zuletzt sind unser größten Schätze all jene Menschen, die hier Zeit verbringen“. Während meiner Stunden unter den Frauen wird dieser Grundsatz eindrücklich unterstrichen.
Bald darauf lerne ich Elisabeth und Uschi kennen. Beide sind in Pension. Sie gestalten Grußkarten, angeleitet von der ebenfalls pensionierten Marlene Panhofer. Meine ersten Fragen klingen stümperhaft. Woher sie die Techniken kenne, die sie vermittle, worauf sich ihre „Betreuung“ stütze. Sie lächelt. Man lerne hier voneinander. Sie kenne das eine oder andere und zugleich lerne sie das eine oder andere. Die beiden Frauen neben ihr nicken. „Wir wollen nicht zu Hause sitzen“, sagt sie. Hier könne man einfach da sein und werde dafür auch noch inspiriert.
Dank der Erfahrungen auf meiner ersten Station des fotografischen Rundgangs frage ich jetzt einfach nichts mehr. Ich begreife, dass es ausreicht, nur da zu sein. Und sofort öffnet sich eine dem strukturierten Menschen ungewöhnliche Welt. Da ist Habiba Ahmadi aus Afghanistan. Die Professorin für Englisch und Marketing lebt seit vier Jahren in Österreich. Heute hilft sie in den Räumen im Herzen Judenburgs jungen Schülern in Englisch und vertieft dabei selbst ihr Deutsch. Und heute, am Tag meines Besuches, da lernt sie nähen. Ein wenig stolz zeigt sie mir ein traditionell afghanisches Kleid, das sie gerade fertigstellt.
Gleich neben ihr sitzt Veronika Neuber. Die pensionierte Physiotherapeutin sagt, sie habe sich für ihren neuen Lebensabschnitt vorgenommen, das Nähen zu erlernen. Begonnen habe es damit, dass sie einen wunderschönen Leinenstoff gefunden habe. Einen Vorhang, den sie in eine Schürze umwandelte. Sie lerne von den vielen Näherinnen, die es besser können als sie selbst. „Jeder hier bringt etwas“, meint sie, „und nimmt auch etwas“.
Am Tisch von Jamila Bagiri erfahre ich, dass die vierfache Mutter, deren Ältester 21 Jahre alt ist und der Jüngste 11, ein selbst geschneidertes Kleid trägt. Sie komme neben dem Nähen aber besonders gerne zwei Mal in der Woche hierher, um Deutsch zu lernen. Während ich mich mit ihr unterhalte, kommt eine Frau auf mich zu und fragt, ob ich auch mit ihr sprechen wolle. Ich bejahe und trete kurz darauf an ihren Nähtisch.
Sie heiße Effat Rahbari, sagt sie, und stamme aus dem Iran. Ich erfahre, dass die dreifache Mutter dort im Management eines Ölkonzerns tätig war. In Österreich darf sie nicht arbeiten, das verbieten die Asylbestimmungen. Auch ihr Mann arbeite ehrenamtlich. Um der Isolation zu entkommen. Seit zweieinhalb Jahren ist sie mit ihrer Familie in der Steiermark und wartet immer noch auf einen positiven Asylbescheid, während ihr 23-jähriger Sohn bereits an der Montanuniversität in Leoben studiert. Lächelnd zeigt sie mir Bilder ihres Sohnes, dann der 19-jährigen Tochter. Und schließlich ihrer Jüngsten, der Fünfjährigen. Während sie spricht, wirft sie immer wieder einen Blick auf die Notizen auf ihrem Tisch. Ich frage, was sie da ablese. Sie meint, sie habe mit einer Freundin vor wenigen Minuten aufgeschrieben, was sie mir sagen wolle. Ich zeige ihr das Foto, das ich davon gemacht habe, gleich nach dem Betreten der Räume, im Schockzustand sozusagen.
„Ich bin sehr glücklich hier“, lese ich unter anderem. „Wir fühlen uns nicht so allein wie in unseren Wohnungen.“ Dann zeigt sie mir ein weißes Kleid. Das nähe sie gerade für ihre Fünfjährige. Ein Geburtstagsgeschenk. Weil das Geld fehle, um ihr etwas zu kaufen. Sie erzählt es lächelnd, ohne jede Bitterkeit.
Veronika Neuber gesellt sich zu uns. Effat Rahbari und sie seien seit langem befreundet, erklärt sie. Begonnen habe die intensive Beziehung mit einem Schal, den sie in den Vinzishop gebracht habe. Eines Tages saß Effat Rahbari zufällig neben ihr. Und trug ihren Schal. Seit damals seien sie unzertrennlich. Auf meine Verwunderung über das Miteinander ohne jegliche Schieflage von „Betreuenden“ und „Betreuten“ meint sie: „Ja, wir kultivieren hier die Planlosigkeit.“ Damit fließe alles in natürlich eingefädelte Bahnen.
Hier, das ist eine Oase abseits aller politischen und sozialen Diskussionen, begreife ich. Hier ist jede und jeder willkommen. Man muss es noch kürzer betonen: Hier ist jeder und jede. Und mehr noch: Während ich fotografiere, reihen sich immer mehr Frauen ein, um mit mir sprechen zu können. Und mit jeder Geschichte wird deutlicher, wie sehr diese Oase notwendig und wichtig ist.
Banin Akbari setzt sich zu mir und sagt, ich solle sie etwas fragen. Sie lächelt dabei mit traurigen Augen. Dann erzählt sie ungefragt, sie fühle sich hier frei. Hier, damit meine sie Österreich. In ihrem Geburtsland seien sie und ihre Kinder Gefangene. Sie wünsche sich dieses Leben nicht für ihre Kinder. „Ich bin wie ein Vogel“, sagt sie und meint dessen Freiheit. Ihr Mann spreche sehr gut Deutsch und arbeite für die Caritas als Dolmetscher. Nachdem ich ein Foto von ihr mache, das sie mit zwei kleinen Kleidchen zeigt, gibt sie sich zufrieden und bedankt sich, dass ich das, was sie zu sagen hatte, allen sage.
Und schließlich, unverkennbar, trägt die junge Iranerin Shohteh Salehi Narben, körperliche wie seelische. Die körperlichen versteckt sie nicht. Eine tiefe Verletzung prägt ihren Unterarm. Shohteh Salehi ist die Mutter des kleinen Jungen, den ich mit Kehrschaufel und Besen fotografierte. Er heißt Attila. Während wir miteinander sprechen, flüstert sie. Wirft immer wieder Blicke nach links uns rechts. Ich meine all jene Ängste in ihrem Verhalten abzulesen, die ein Mensch mit sich herumtragen muss, wenn er nicht weiß, ob er bleiben darf. Vor acht Jahren floh sie aus ihrem Geburtsland in die Türkei. Dort blieb sie fünf Jahres, erhielt kein Asyl. So zog sie weiter nach Österreich und wartet immer noch auf den erlösenden, positiven Bescheid. Keinesfalls kann sie zurückkehren in den Iran. Sie flüstert mir zu, wie sehr sie „eingefädelt“ brauche, für ihren Sohn, der sonst nichts Schönes erlebe. „Weil wir immer angespannt sind. Hier lacht er.“ Inzwischen nimmt sie seit fünf Monaten an den Deutschkursen teil. „Ich bin so froh, hier zu sein“, steht auf einem kleinen Zettel, den auch sie für unser Gespräch vorbereitet hat. Ich frage, ob ich die Notiz behalten darf. Ich möchte mich lange erinnern. Nicht an den Satz. An der Schmerz.
Rainer Juriatti
Der gemeinnützige Verein „eingefädelt – Zusammenleben in Vielfalt“ bietet einen Raum für Begegnung und Kreativität, einen Raum „des voneinander lernens“ und steht allen Menschen für den Freizeitbereich offen.
Getragen wird der Verein von der Katholischen Kirche Steiermark, von zahlreichen Einzelpersonen, Firmen und Organisationen sowie Netzwerken der Region. Willkommen sind Sachspenden, um den laufenden Betrieb kostenschonend zu betreiben.
Öffnungszeiten:
Dienstag 9 - 12 Uhr und 14 - 17 Uhr
Mittwoch 14 - 17 Uhr
Donnerstag 9 - 12 Uhr und 14 - 17 Uhr
Angebote:
Nähen und Handarbeiten – individuell, für sich selbst oder für konkrete Projekte.
Malen und Einüben verschiedenster kreativer Techniken
Einüben und Vertiefen der deutschen Sprache,
Hilfestellungen bei Mathematik, Englisch, PC-Anwendungen
Hilfestellung bei Hausaufgaben
Freies oder gemeinsames Spielen mit Kindern
Feste, Gespräche, Beratungen
Es stehen zwei Computer für Hausaufgaben oder Referate zur Verfügung.
Der Raum bietet über das Tun hinaus eine gute Möglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen und so ein Stück weit intensiver an der Gesellschaft teilzuhaben.
Burggasse 9, 8759 Judenburg
office@eingefaedelt.com
0676 8742 6955
www. eingefaedelt.com
Diese Kolumne steht Ihnen offen, um Themen des täglichen Lebens aus Ihrer ganz persönlichen Sicht als ChristIn in einem kurzen Text zu kommentieren.
Wir freuen uns über Ihren Beitrag an webred@graz-seckau.at!