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(Es gilt das gesprochene Wort)
Vom 2012 verstorbenen Kardinal Carlo Maria Martini stammt ein beachtenswertes Gebet für Europa[1], in welchem wir Grundgedanken für den europäischen “way of life” identifizieren können. Dieser “way of life” lässt sich nicht auf eine klar vorgegebene Richtung reduzieren. In besagtem Gebet heißt es unter anderem: "Vater der Menschheit, Herr der Geschichte! Sieh auf diesen Kontinent, dem du die Philosophen, die Gesetzgeber und die Weisen gesandt hast, Vorläufer des Glaubens an deinen Sohn, der gestorben und wieder auferstanden ist. Sieh auf diese Völker, denen das Evangelium verkündet wurde, durch Petrus und durch Paulus, durch die Propheten, durch die Mönche und die Heiligen. Sieh auf diese Regionen, getränkt mit dem Blut der Märtyrer, berührt durch die Stimme der Reformatoren. Sieh auf diese Völker, durch vielerlei Bande miteinander verbunden, und getrennt durch den Hass und den Krieg."
Der europäische Weg war also nie ein eingleisiger, als solcher klar identifizierbar, sondern zeigt sich in Verästelungen und Widersprüchlichkeiten, die aber auf eine dynamische Einheit gerichtet sind. Dies betrifft nicht nur die verschiedenen Völker, sondern auch die verschiedenen Bereiche wie Kultur, Wirtschaft, Politik oder Religion. In der Ausrichtung auf die Beachtung der Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Bereiche und in den daraus entstehenden Spannungen kann das gute Leben nicht eindimensional angestrebt werden, sondern nur in einer leider nicht immer gelingenden Zusammenschau. So heißt es in dem Gebet für Europa dann auch in der Folge: "Gib, dass wir uns einsetzen für ein Europa des Geistes, das nicht nur auf wirtschaftlichen Verträgen gegründet ist, sondern auch auf menschlichen und ewigen Werten: Ein Europa, fähig zur Versöhnung, zwischen Völkern und Kirchen, bereit um den Fremden aufzunehmen, respektvoll gegenüber jedweder Würde. Gib, dass wir voll Vertrauen unsere Aufgabe annehmen, jenes Bündnis zwischen den Völkern zu unterstützen und zu fördern, durch das allen Kontinenten zuteil werden soll die Gerechtigkeit und das Brot, die Freiheit und der Friede."
In diesen Gebetsworten kommt das Bewusstsein zur Sprache, dass Europa mehr ist als nur Wirtschaft oder Politik, sondern wesentlich auch in seiner geistigen Dimension zu sehen ist bzw. in der Verschränkung dieser Dimensionen. Europa ist in diesem Sinne nicht, sondern ist immer im Werden, es ist auf dem Weg, der immer auch der Korrekturen bedarf. In der Korrektur soll nun nicht Abfall oder Scheitern den Hintergrund bilden, sondern der von verschiedensten Entwicklungen geprägte, der gute, der immer neu zu beschreitende Weg. Immer muss dieser Weg orientiert sein an der Würde aller Menschen und einem Zusammenleben in Frieden. Davon soll eine Vorbildwirkung auf andere Kontinente ausgehen, auch solche, die man lang in Abhängigkeit hielt und denen gegenüber man Abbitte zu leisten hat.
Hier möchte ich nun zurückgreifen auf den viel zitierten Ausspruch von Jacques Delors vor Kirchenvertretern 1992: "Wenn es uns nicht gelingt, Europa in den nächsten zehn Jahren eine Seele, einen tieferen Sinn zu vermitteln, haben wir das Spiel verloren." Diese von Delors eingeräumte Zehn-Jahres-Frist ist längst abgelaufen. Wir haben ein verstärktes bürokratisches Bemühen um Europa, eine zum Teil weitgehende Verrechtlichung, aber oft mit wenig Bezug auf die viel beschworenen Werte. Ich bin nicht der Meinung, dass immer die fehlenden Werte schuld sind, sondern dass es um das Bemühen gehen muss, vereinigende Werte modellhaft in Institutionen und Rechten umzusetzen. Dabei muss uns immer bewusst bleiben, dass es die Umsetzung nicht gibt, ein Geheimrezept quasi, sondern dass die Umsetzung immer ein Prozess bleibt. Europa ist nicht, sondern Europa ist eben auf dem Weg.
Es geht auf diesem Weg nicht um ein Alles oder Nichts, sondern um ein Mehr oder Weniger. Es geht aber immer um eine Beachtung eines übergeordneten Interesses, das über die Aufsummierung der Einzelinteressen hinausgeht. Dabei gilt es zu bedenken, was in der europäischen Tradition so oft missachtet, aber dann doch immer wieder kritisch eingeholt worden ist: Der Staat oder staatliche Gebilde sind nie als Letztgröße zu verstehen, die alles als erlaubt erscheinen lässt, was ihrem Interesse dient. Der Bezugspunkt für den Staat ist immer das Gelingen des Lebens aller in ihm versammelten Personen. Dies gilt nach "unten". Nach oben hin darf ein Staatsverband – und das resultiert gerade auch aus der Verantwortung der Person gegenüber – nicht nur ein die einzelnen Souveränitäten aufsummierender "Staatenverein" sein, "der keine supranationale Überordnung über deren Mitglieder kennt", wie Bischof Franz-Josef Overbeck das von der christlichen Gesellschaftslehre zu überwindende Modell einer Staatenvereinigung sieht, wie sie sich beispielsweise in der UNO zeigt[2]. Es muss also so etwas geben wie eine supranationale Autorität, die aber in der Verpflichtung, nicht in der Berechtigung ihren Ursprung hat. Eine Autorität, die einen Missbrauch eines Mandats für das Eigeninteresse des mit dem Mandat versehenen Staates eindämmen könnte.
In seiner Enzyklika Caritas in Veritate[3] aus dem Jahre 2009 schreibt Papst Benedikt XVI.: "Das Teilen der wechselseitigen Pflichten mobilisiert viel stärker als die bloße Beanspruchung von Rechten." (Nr. 43), nachdem er ebendort zuvor angemerkt hatte: "Die Übertreibung der Rechte mündet in der Unterlassung der Pflichten. Die Pflichten grenzen die Rechte ein, weil sie auf den anthropologischen und ethischen Rahmen verweisen, in dessen Wahrheit sich auch die letzteren einfügen und daher nicht zur Willkür werden." Damit werden die Rechte in einem Grund verankert, der über nationale Interessen hinausgeht und der jeder Regierung zur Aufgabe wird. So heißt es weiter in Nummer 43 von Caritas in Veritate: "Wenn hingegen die Rechte des Bürgers ihr Fundament allein in den Beschlüssen einer Bürgerversammlung finden, können sie jederzeit verändert werden, und daher lässt die Pflicht, sie zu achten und einzuhalten, im allgemeinen Bewusstsein nach." In diesem Sinne gilt es das Subsidiaritätsprinzip zu bedenken, das in der Wahrnehmung der übergeordneten Interessen den Weg von unten nach oben wählt. Damit zeigt sich der Weg Europas in der Beachtung der vielen Identitäten, in einer Einheit in Vielfalt, die letztendlich die Seele ausmacht.
Wie zu Pfingsten, wo trotz verschiedener Sprachen und Traditionen ein Zusammenführen dieser Vielfalt in ein gemeinsames Verständnis stattfindet, bedarf es immer des Wahrnehmens dieses Geistes, der nicht sichtbar ist, sondern in seinen Wirklungen zum Tragen kommt. Dies gilt auch für die Ökumene, die Gemeinschaft der Kirchen und Religionen. Trotz der Rede von der Säkularisierung, die in Teilen Europas weit fortgeschritten gesehen wird, spielen die Religionen und Kirchen eine wichtige Rolle, nun nicht mehr in ein alltägliches Milieu gegossen, sondern als ein Element der Lebenswelt, das bei Bedarf anvisiert wird. Religion begegnet uns gerade angesichts von Migration und Globalisierung in der Mehrzahl.
Das Verhältnis der Kirchen und Religionen untereinander war keinesfalls immer konfliktfrei und auf ein Ziel hin gehend. Für Europa, wie es im Gebet von Martini ausgedrückt wird, als einer Einheit in Vielfalt mit Rückschlägen und Weiterentwicklungen, ist aber auch diese Ökumene als doch gemeinsam versuchter Weg zeichenhaft dafür, wie aus Spaltungen verschiedene Wege auf ein gemeinsames Ziel hin gefunden werden können. Dabei steht die Überzeugung im Mittelpunkt, dass sich in der Ausrichtung auf die je eigene Tradition Perspektiven durch den Blick auf die anderen eröffnen, die alle gemeinsam weitertreiben. Vor allem aber ist in diesen vielfältigen Zugängen, wenn sie als Wege zu dem gemeinsamen Ziel des Dienstes an der Gesellschaft verstanden werden, ein Weg zum Frieden eröffnet. Und dies ist gerade angesichts der Kriegssituation heute wesentlich. Der Frieden steht über allem.
Vieles in den zum Teil divergierenden, aber doch auf ein Ziel hin bezogenen European ways of life leuchtet in christlicher Sicht auch in den Patronen Europas auf. Dies sind sechs Heilige, drei Männer und drei Frauen, die im Laufe der letzten Jahre explizit als Patrone Europas benannt wurden. In ihnen sollen die kulturellen Grundlagen Europas, die nationale und geistliche Vielfalt, die Spannungen und auch Spaltungen, aber auch deren Überwindung durch den gemeinsamen Geist aufgezeigt und im Bezugspunkt Gott zu einem Einklang gebracht werden.
Benedikt von Nursia war der erste Heilige, der 1964 durch Papst Paul VI. zum Patron Europas erhoben wurde; Papst Johannes Paul II. fügte 1980 Kyrill und Methodius, 1999 Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und Teresia Benedicta vom Kreuz - letztere vermutlich besser bekannt als Edith Stein - hinzu.
Der hl. Benedikt von Nursia, der Vater des abendländischen Mönchtums, wurde nicht nur in seinem Orden, sondern wesentlich auch in den Werken und Taten der anderen sich auf ihn berufenden Orden zum Baumeister des sogenannten christlichen Abendlandes. In seiner Ausrichtung auf die Zusammenführung von Gebet und Arbeit, dem berühmten “Ora et labora”, dem mitunter auch ein lege, “Lies!” angefügt ist, zeigt sich sein kritischer Blick auf ein Auseinanderfallen der Bereiche menschlichen Lebens. Ein kritischer Blick, der besonders in einer globalisierten Welt von heute, in der die Globalisierung auf eigene Interessen zurückgenommen erscheint, ein wichtiges Korrektiv hin auf Zusammenschau und Vertiefung sein kann.
Die hll. Kyrill und Methodius als Glaubensboten bei den Slawen verweisen darauf, dass Europa insgesamt eine auf Mission ausgerichtete Haltung zukommt, die aber nicht auf assimilierende Weise auf andere Kulturen übertragen werden darf, wie es leider zu oft geschehen ist, sondern immer auf eine die Impulse der entsprechenden Kultur aufnehmende Art und Weise. Wie Kyrill und Methodius in der Liturgie den Gebrauch der slawischen Sprache einführten und dazu besondere Schriftzeichen verwendeten, so gilt es, Traditionen aufzunehmen, diese aber mit dem eigenen Geist zu befruchten. Es ist viel gesündigt worden in Missionierung und Kolonialisierung, es blieb aber immer auch der Gedanke einer Zusammenführung auf einer durch verschiedene Traditionen gespeisten, gemeinsamen Basis. Wenn von Papst Johannes Paul II, einem in den beiden Traditionen stehenden Menschen, immer wieder das Bild von den zwei Lungenflügeln bemüht wurde, so zeigt sich die Bedeutung der Aufnahme verschiedener Stränge zum Finden eines gemeinsamen Atems. Papst Johannes Paul II. hat in seinen Ansprachen oft davon gesprochen, dass Europa mit beiden Lungenflügeln atmen muss, nämlich mit dem östlichen und dem westlichen. Diese Aussage zeigt das Programm eines nicht nur in ökumenischer Hinsicht bedeutsamen Blicks auf die Einheit in Verschiedenheit, sondern auch in politischer Hinsicht auf ein gemeinsames Vorgehen in gegenseitiger Ergänzung und Unterstützung, was angesichts verschiedener Missverständnisse zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil der EU heute eine Herausforderung auf dem gemeinsamen Europäischen Weg darstellt.
Die hl. Katharina von Siena, die sich um den Frieden unter ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern und um die Erneuerung des religiösen Lebens als Beraterin im geistlichen wie im weltlichen Bereich bemühte und als Frau an der Machtpolitik der Männer Kritik übte, wurde 1999 von Johannes Paul II. zusammen mit der hl. Birgitta von Schweden und Edith Stein zur Patronin Europas erhoben. In dem entsprechenden Dokument aus dem Jahre 1999 heißt es zusammenfassend: "Europa soll also wachsen! Es soll wachsen als Europa des Geistes auf dem Weg seiner besseren Geschichte, die gerade in der Heiligkeit ihren erhabensten Ausdruck findet. Die Einheit des Kontinents, die im Bewusstsein der Menschen allmählich reift und sich auch in politischer Hinsicht immer klarer abzeichnet, verkörpert gewiss eine sehr hoffnungsvolle Perspektive. Die Europäer sind aufgerufen, die historischen Rivalitäten, die ihren Kontinent oft zur Bühne verheerender Kriege gemacht haben, endgültig hinter sich zu lassen. Gleichzeitig müssen sie sich darum bemühen, die Bedingungen für einen größeren Zusammenhalt und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Völkern zu schaffen. Vor ihnen liegt die große Herausforderung, eine Kultur und eine Ethik der Einheit aufzubauen. Denn wenn diese fehlen, ist jede Politik der Einheit früher oder später zum Scheitern verurteilt. Um das neue Europa auf solide Grundlagen zu stellen, genügt es sicher nicht, nur an die wirtschaftlichen Interessen zu appellieren, die manchmal zusammenführen und dann wieder spalten. Vielmehr gilt es, die für Europa authentischen Werte zu betonen, deren Fundament das in das Herz eines jeden Menschen eingeschriebene allgemeine Sittengesetz ist. Ein Europa, das den Wert der Toleranz und der allgemeinen Achtung mit ethischem Indifferentismus und Skeptizismus in Bezug auf die unverzichtbaren Werte verwechselte, würde sich den riskantesten Abenteuern öffnen und früher oder später die erschreckendsten Gespenster seiner Geschichte in neuer Gestalt wieder auftauchen sehen. Um diese Bedrohung zu bannen, erweist sich wieder einmal die Rolle des Christentums als lebenswichtig. Denn es weist unermüdlich auf den idealen Horizont hin. Auch im Lichte der vielfältigen Berührungspunkte mit den anderen Religionen, die das Zweite Vatikanische Konzil erkannt hat [...], muss man nachdrücklich betonen, dass die Öffnung für das Transzendente eine lebenswichtige Dimension der Existenz ausmacht. Es kommt daher wesentlich auf ein erneuertes, engagiertes Zeugnis aller Christen an, die in den verschiedenen Nationen des Kontinents leben. Ihnen ist es aufgetragen, die Hoffnung auf das vollkommene Heil zu nähren durch die Verkündigung des Evangeliums".[4]
Die hl. Birgitta von Schweden, die als Mystikerin über den scheinbar evidenten Handlungszusammenhang hinausging und zur Beraterin von Fürsten und Päpsten wurde, oder Edith Stein, mit Ordensnamen Teresia Benedicta vom Kreuz, zeigten Dimensionen einer vertiefenden Sicht Europas auf, die als Hinweis auf das, was fehlt, dienen kann. Gerade der Hinweis auf das Fehlende ist ein Stachel für positive Entwicklungen und damit ein wichtiges Moment eines europäischen Lebensmodells.
In seiner Ansprache am 9. September 2007 fasst Papst Benedikt XVI. das europäische Lebensmodell in die Worte: "Heute ist häufig die Rede vom europäischen Lebensmodell. Damit ist eine Gesellschaftsordnung gemeint, die wirtschaftliche Effizienz mit sozialer Gerechtigkeit, politische Pluralität mit Toleranz, Liberalität und Offenheit verbindet, aber auch das Festhalten an Werten bedeutet, die diesem Kontinent seine besondere Stellung geben. Dieses Modell steht angesichts der Zwänge der modernen Ökonomie vor einer starken Herausforderung. Die viel zitierte Globalisierung kann nicht aufgehalten werden, es ist aber eine dringende Aufgabe und eine große Verantwortung der Politik, der Globalisierung solche Regeln und Grenzen zu geben, dass sie nicht auf Kosten der ärmeren Länder und der Ärmeren in den reichen Ländern realisiert wird und nicht den kommenden Generationen zum Nachteil gereicht." Dann weist er mit Jürgen Habermas auf die besondere Bedeutung des Christentums für Europa hin: "Lassen Sie mich dazu Jürgen Habermas zitieren, also einen Philosophen, der sich selbst nicht zum christlichen Glauben bekennt. Er sagt: 'Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.'"[5] Dieses Modell des Ausgleichs in Ausrichtung auf eine alle einbeziehende Gerechtigkeit und auf der Basis der sozialen Liebe in der Wahrnehmung der Verantwortung braucht die tägliche Einübung gerade in einer sich wandelnden Gesellschaft, in der europäische Werte nicht als Alleinstellungsmerkmal dienen, sondern als das Element einer Mission, das zur Lebensform Europas und damit der ganzen Welt führt.
Mein Vorgänger im bischöflichen Dienst referierte am 28. August 2016 beim Treffen des Ratzinger-Schülerkreises in Castel Gandolfo über "alte und neue Herausforderungen für die Christen auf dem Bauplatz Europa"[6]. Er hielt dort ein Plädoyer für einen "realistischen Idealismus" in Europa, der Gesinnungs- und Verantwortungsethik zusammenführt. Für Europa wäre in allen Pendelbewegungen ein solcher Ausgleich prägend. Konkret sieht Bischof Egon Kapellari neben dem Thema Migration und Integration weitere Themenkreise, in denen es jenen "realistischen Idealismus" zu bewahren gelte: bei der Frage nach Gott, in der Ökumene, im Verhältnis zum Islam und im Blick auf den Lebensschutz. Die Frage nach Gott sei trotz aller Anfechtung und Verdunstungserscheinungen "in Europa millionenfach präsent im Herzen und im Leben unzähliger Christen und ihrer Gemeinschaften". Ausgehend von der engen historischen Verknüpfung von Christentum und Europa ergebe sich - so Bischof Egon unter Rückgriff auf einen Gedanken des bereits emeritierten Papstes Benedikt XVI. - das "Angebot" an alle säkularen Zeitgenossen, so zu leben, als ob es Gott wirklich gäbe, also 'etsi Deus daretur'". "Tief glaubende Christen werden bezeugen können, dass sich das durch alle Krisen hindurch für sie bewährt hat". So zitiert die Website der Katholischen Kirche Österreichs aus diesem Vortrag.[7]
Das ist es, wie ein am Christentum orientiertes Europa auf dem Weg sein und eine Orientierungsmarke präsent machen und damit ein Erstaunen bewirken kann. In seinem Aufsatz "Eine Welt ohne Christus" kommt Heinrich Böll auf die Unzulänglichkeit der Christen zu sprechen, die nicht nach der biblischen Forderung die Welt überwunden haben, sondern von ihr überwunden werden, um dann auf den Albtraum einer Welt einzugehen, in der die Gottlosigkeit konsequent praktiziert wird und in der der Mensch in die Hände des Menschen fällt. Dann schreibt er wörtlich: "Nirgendwo im Evangelium finde ich eine Rechtfertigung für Unterdrückung, Mord, Gewalt; ein Christ, der sich ihrer schuldig macht, ist schuldig", um dann fortzufahren: "Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, und hin und wieder gibt es sie: Christen; und wo einer auftritt, gerät die Welt in Erstaunen. 800 Millionen Menschen auf dieser Welt haben die Möglichkeit, die Welt in Erstaunen zu setzen. Vielleicht machen einige von dieser Möglichkeit Gebrauch." Inzwischen versetzen mehr als 2,2 Milliarden Christen - auch in der Kirche der Steiermark - die Welt mit ihrem Einsatz für die Armen immer wieder in Erstaunen, wiewohl es manchmal ein Erstaunen ist, das von Ablehnung und Vorwurf begleitet ist. Böll fasst dies in ein bemerkenswertes Geständnis: "Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache. Und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen Welt als nutzlos erschienen und erscheinen."[8] Damit ist das vielleicht wichtigste Element eines European way of life angesprochen, das in seiner Deplatziertheit in der Welt von heute auf eine Wirklichkeit verweist, ohne die Europa nicht Europa wäre.
Lassen Sie mich also zusammenfassen: Europa ist und bleibt auf dem Weg, stets unterwegs auf einem “way of life”, auf dem die christlichen Werte als gelebte Wegkategorien unverzichtbar bleiben. Basierend auf diesen Werten, die uns durch Jahrtausende getragen haben, werden Rückschläge weiter zu Fortschritt führen, wird trotz der Vielfalt eine Einheit möglich sein, wird Platz sein für alle, um ein gutes Leben zu führen. Die Einladung von Papst Benedikt XVI. gilt weiter. Probieren wir, so zu leben, als ob es Gott gäbe. Damit der europäische “way of life” ein guter Weg für alle ist - für die Erfolgreichen, aber auch für die Schwachen, die Armen, die Alten und die Benachteiligten - ja für die Schöpfung an sich. Ein guter “way of life” führt alle zu einem guten Ziel.
[1] https://emmauspilger.wordpress.com/2022/01/24/gebet-fur-europa/ abgerufen am 18.5.2023.
[2] https://www.kath-akademie-bayern.de/fileadmin/user_upload/debatte_2012-7.pdf abgerufen am 18.5.2023.
[3] Papst Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in Veritate (https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20090629_caritas-in-veritate.html abgerufen am 18.5.2023).
[4] Apostolisches Schreiben in Form eines motu proprio zur Erklärung der hl. Birgitta von Schweden, der hl. Katharina von Siena und der hl. Teresia benedicta a cruce zu Mitpatroninnen Europas (https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/motu_proprio/documents/hf_jp-ii_motu-proprio_01101999_co-patronesses-europe.html, abgerufen am 18.5.2023).
[5] Apostolische Reise von Papst Benedikt XVI. nach Österreich anlässlich der 850-jahrfeier des Wallfahrtsortes Mariazell: Begegnung mit führenden Vertretern des politischen und öffentlichen Lebens sowie dem diplomatischen Korps, Ansprache von Benedikt XVI., Empfangssaal der Hofburg, Wien, 7. September 2007 (https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2007/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20070907_hofburg-wien.html abgerufen am 18.5.2023).
[6] Egon Kapellari: Alte und neue Herausforderungen für die Christen auf dem Bauplatz Europa, in: Christian Schaller u.a. (Hg.): Europa christlich?! Zum Gespräch von Glaube und säkularer Welt, Regensburg 2018, 73-92.