Emmaus heute: Er öffnet mir die Augen, Er geht mir voran

1. In einem Buch, das ich kürzlich gelesen habe, ist von der Gestaltung des Lebens der Kirche für unsere Zeit die Rede. In ihm ist die Emmauserzählung abgedruckt. Sie "erzählt von einer Weggemeinschaft, in der sich in einem flüchtig erscheinenden Moment irgendwo im Nahen Osten [...] eine Verdichtung von Leben ereignet. [...] Sie markiert den Aufbruch einer Nachfolge als Lebensstil, in der Menschen Erfahrungen mit dem Auferstandenen sammeln, der ihnen 'in Galiläa' vorausgeht. Dabei steht 'Galiliä' [...] für die Lebenswelten aller Menschen durch die Geschichte hindurch".[1]

2. Diese Überlegungen haben mich gepackt. Denn ich meine, dem ist tatsächlich so!

• Wenn ich in mein eigenes Leben schaue: Es gibt Momente, in denen sich so manches in meinem Dasein verdichtet hat. Sofort fallen mir etwa die letzten Tage des Lebens mit meinem Vater ein - wie auch das Abschiednehmen mitten im Winter. Mir fällt auch die Nacht nach dem Anruf des Nuntius vor mittlerweile sieben Jahren ein, in der mir der Schlaf geraubt war: "Kann ich mir das zutrauen, Bischof sein? Und ist dieser Ruf meinem Leben entsprechend?" Oder auch jene Momente - um ein letztes Beispiel zu nennen - der fürsorgenden Begleitung von Priestern von meiner Kindheit bis zur Jugend, die mir den Raum öffneten, auch darüber nachzudenken, ob ich mich in den Dienst der Kirche stellen könnte. Ich bin mir sicher: jede und jeder von uns weiß um solche Erfahrungen, die einen plötzlich das gesamte Dasein neu sehen lassen.
• Und ehrlich - auch wenn es mir schwerfällt: mit diesen Einblicken, die mir durch die eben benannten und auch andere Beispiele meiner Lebensgeschichte geschenkt wurden, ist die Welt anders zu sehen. Dann ist sie eine vom Auferstandenen geprägte, der in "meinen Galiläas" vorangehend unterwegs war und ist. Ihm nachzufolgen, ist die Devise, auch wenn es nicht immer leicht ist, denn da gibt es natürlich auch Erfahrungen des Scheiterns und des Anstehens. So denke ich bei letzterem an die eine oder andere Verhärtung bei einzelnen oder auch Gruppen im gesellschaftlichen wie auch kirchlichen Diskurs. Gerade im Anstehen kann ich nicht anderes und bin erst recht herausgefordert, IHM alles anzuvertrauen. "Wehe!" aber, wenn ich diesen "Karsamstagen" ausweichen möchte - Krankheit, Leiden, Sterben, Tod, persönliches Elend und himmelschreiende Situationen in unserer Welt müssen wir uns auch heute stellen. - Die Vielfalt Galiläas damals wie heute lässt mich da und dort staunend und dankend zurück. "Wo Gott nicht überall wirkt - ob an- und wahrgenommen oder nicht. Etwa in unseren Pflegeheimen und Hospizgruppen". - Ich denke an den Einsatz von ÄrztInnen und PflegerInnen und vielen anderen in den Krankenhäusern und Ordinationen, wo man sich um das Wohlergehen von Menschen kümmert. - Ich denke auch an die Tausenden, die in den letzten Jahren der Kirche ade gesagt haben - aus diesen oder jenen Gründen oder auch einfach deswegen, weil ihnen "dieser Verein nichts gibt", die sich was anderes erwartet haben und nun ihr Leben ohne Kirche gestalten. - Ich weiß beim Denken an so manches oft selbst nicht weiter, weil ich Kirche eben anders erlebe, muss mir aber in Erinnerung rufen: Er geht mir in Galiläa voran! - Mir fallen unzählige Lehrende ein, die Krippen, Kindergärten und Schulen als Begegnungsräume in SEINEM Sinne erlebbar machen, weil sie sich für das Aufleben junger Menschen einsetzen. Von den vielen, die sich in der Freizeit engagieren, ganz zu schweigen. - Ich denke sofort an die Tausenden, die sich der Nächsten wegen in Vereinen und bei Aktionen - auch kirchlichen - um das Wohlergehen anderer mühen und darin nicht müde werden. - Ich denke an die Tausenden, die sich in Pfarren und Seelsorgeräumen als einem ihrer "Galiläas" oder an anderen kirchlichen Erfahrungs-Orten für das Miteinander und die Feier der Gottesdienste engagieren - ob getauft und gefirmt oder auch Gott geweiht. - Und, ohne damit zu behaupten, unseres Daseins vollständig ausgeschritten zu sein: Ich bin wirklich dankbar, dass so viele Ja zum Leben sagen und in ihren Familien damit Hoffnung voranbringen, weil sie Kinder erziehen, weil sie alten Menschen Heimat bieten usw.

3. Wie heißt's lapidar weiter in dem eingangs zitierten Buch: "In der Nach-Folge Jesu, der in der Vielfalt von 'galiläischen' Lebenswelten voran-geht, ereignet sich Kirche in einer 'katholischen' Fülle von wechselseitigen Ent-Grenzungen. In diesen werden die Grenzen zum Ort der Begegnung, des Lernens und des gemeinsamen Entdeckens neuer Wege. Auf diesen Wegen ereignet sich die verheißene Einheit von Gott und Mensch und die Einheit der Menschheit untereinander."[2] - Ja: Ostern lässt Aufleben. Weil uns Ostern zeigt, dass wir "unser Galiläa", unsere Situationen meistern können, wenn wir mit IHM gehen und auf IHN vertrauen.