Bücken wir uns!
Ein Gelehrter kam zu einem Rabbi und sagte: „Ich habe so viel in Büchern gelesen und studiert, aber Gott ist mir noch nie begegnet!“ Der Rabbi antwortete: „Dann hast du dich noch nicht genug gebückt!“ Unzählige Bücher wurden geschrieben, viele Versuche von Theolog*innen und Gläubigen gab und gibt es, das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu entschlüsseln bzw. zu verstehen. Jetzt könnte ich es mir leicht machen und sagen, dass wir das als Menschen ohnehin nicht verstehen können, dass es die Möglichkeiten unseres Verstandes übersteigt. Dann wäre meine Predigt hier schon zu Ende ? Aber da ich immer noch leidenschaftliche Theologin bin, möchte ich meine Gedanken mit Euch teilen. In jeder Messe beten wir miteinander das “Geheimnis unseres Glaubens”, Begegnung mit Gott kann auf vielfältige Weise geschehen und bleibt doch unverfügbar. Wenn wir Eucharistie feiern, wird auch niemand von uns wirklich verstehen, wie es sein kann, dass aus Brot und Wein Leib und Blut Jesu werden. Ich verstehe auch nicht, wie der Heilige Geist wirkt, und da gäbe es noch viele Beispiele mehr. Aber ich glaube, dass wir uns diesem Geheimnis Gottes nähern können, wie es der Rabbi dem Gelehrten vorschlägt: Wir müssen uns mehr bücken, um Gott zu begegnen. Für mich bedeutet das, mich immer wieder an die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel zu erinnern, wie wir es im Hochgebet der Messe tun, die alten Erzählungen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das Volk Israel hat viel mit Gott erlebt, Schmerzvolles, aber vor allem das rettende Eingreifen Gottes. Erinnerung ist auch für unsere menschliche Geschichte wesentlich, auch wenn ich oft den Satz höre, dass es jetzt aber mal genug wäre mit der Geschichte vom Holocaust beispielsweise. An manche Dinge sollen wir uns erinnern, damit sie nie wieder passieren, an andere, um uns die Liebe und Zuwendung Gottes zu uns Menschen zu vergegenwärtigen.
Gott bietet uns seine Liebe und Nähe an, unsere Aufgabe ist es, dafür offen zu werden, unsere Sinne zu schärfen, um unsere Wahrnehmung zu trainieren, unser Herz zu öffnen, um berührbar zu bleiben für den Anruf Gottes an mich ganz konkret. Dieser kann vielfältig sein und sich im Lauf unseres Lebens auch verändern. Wir leben in einer Zeit, in der ständig polarisiert wird. Rund um den Eurovisions-Song-Contest, der von einer nicht-binären Person gewonnen wurde, mitten im deprimierenden Wahlkampf vor der EU-Wahl, kurz vor Beginn des Pride-Month. Ich denke, ich muss nicht alles gut finden, aber als Christ*innen ist es unsere Verantwortung, Dinge zu hinterfragen, sich eine Meinung zu bilden und dazu zu stehen. Unsere Stimme für die zu erheben, die niemand hören will, die einer Minderheit angehören, die sich gegen Unterdrückung und Unrecht weltweit, aber auch ganz konkret vor Ort einsetzen. Den Dreifaltigkeitssonntag, eingerahmt von Pfingsten und Fronleichnam, können wir als Einladung Gottes an uns sehen, nicht müde zu werden, ihr nahe zu kommen und stets neue Facetten ihres Seins zu entdecken. Lassen wir uns darauf ein, wechseln wir die Blickrichtung und bücken wir uns – wer weiß, was uns erwartet!? Amen.