Fingerzeig
Matthias Grünewald hat in den Jahren 1512 bis 1516 mit dem sogenannten
Isenheimer Wandelaltar wohl eines der bedeutendsten Werke der christlichen Kunstgeschichte geschaffen. Auf dem Kreuzigungsbild ist mit Johannes dem Täufer eine Figur abgebildet, welche – biblisch betrachtet – gar nicht unter dem Kreuz Jesu stehen konnte, denn er starb schon, als Jesus noch lebte. Das Besondere für mich an dieser Darstellung des Johannes ist sein überlanger Zeigefinger. Als ich Kind war und ich meiner Mutter eine bestimmte Person zeigen wollte, hat sie zu mir immer gesagt: „Man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf angezogene Leute!“ Beim Lesen der heutigen Bibelstelle und beim Betrachten des Bildes von Grünewald, ist mir dieser Satz meiner Mutter eingefallen. Beim genaueren Betrachten des Bildes muss ich den Lehrsatz meiner Mutter auch schon wieder revidieren, denn Johannes zeigt mit seinem überlangen Finger nicht auf einen angezogenen Menschen, sondern auf den nackten und von der Marter zerschundenen Körper von Jesus.
Für die heutige Predigt habe ich mir erlaubt ein fiktives Interview mit dem Künstler zu machen.
Werner: „Meister Grünewald, was hat Sie veranlasst Johannes den Täufer ins Bild der Kreuzigung zu setzen? Biblisch ist das ja völlig unrichtig, denn Johannes war ja schon Tod als Jesus gekreuzigt wurde.“
Grünewald: „Lieber Werner, da hast Du vollkommen recht. Nach dem biblischen Bericht kann Johannes gar nicht unter dem Kreuz gestanden haben. Du musst aber daran denken, dass mein Werk in einem Ordensspital der Antoniter aufgestellt wurde. Zu dieser Zeit wütete die Pest im Land. Das kannst Du gut sehen, wenn Du den Gekreuzigten betrachtest. Auf seinem Körper sind neben den Wundmalen auch Pestbeulen zu sehen. Die Erkrankten stellten sich ja immer wieder auch die Frage warum, warum ich. Da ist mir Johannes der Täufer eingefallen, der bei der Taufe Jesu zu seinen Jüngern gesagt hat, seht das Lamm Gottes. Darum habe ich ihn ins Bild gebracht, damit er den Betrachtern meines Werkes zusagt, schaut auf den Leidensmann am Kreuz.“
Werner: „Meister, ich bin kein Kunstfachmann, aber ist Ihnen beim Malen des Fingers von Johannes nicht ein proportionales Missgeschick passiert? Der Zeigefinger ist ja fast gleich groß wie der Kopf des Täufers.
Grünewald: „Gut beobachtet, aber genau das wollte ich besonders zum Ausdruck bringen. Die Evangelien schildern Johannes als den Vorläufer Jesu,
als jemand, der seine Aufgabe darin sah ihm den Weg zu bereiten. Das habe ich auch mit der lateinischen Inschrift festgehalten: ‚Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden. (Joh 3,30)‘ Er weist den Betrachter – den Kranken, denjenigen, der sich fragt, wie er mit seinem Leid umgehen soll – auf Christus hin: Schau auf den, der am Kreuz gelitten hat.
Werner: „Meister, welchen Fingerzeig möchte Johannes uns Menschen heute, die wir im 21 Jhdt. Leben, auf unseren Weg mitgehen?“
Grünewald: Sicher nicht, Mensch bleib stehen, versinke im (Selbstmit-)Leid und betrachte die Schmerzen Jesu.
Um diesen Fingerzeig besser zu verstehen, muss man nämlich auch das Lamm zu Füßen des Johannes betrachten. Es hält das Kreuz, quasi als Siegeszeichen, zwischen den Pfoten und das Blut des Lammes wird in einem Kelch aufgefangen. Bei jeder Eucharistiefeier werden wir auf den Fingerzeig des Johannes aufmerksam gemacht, wenn der Priester den Leib des Herrn erhebt und mit den Worten Johannes des Täufers sagt: „Seht das Lamm Gottes. Es nimmt hinweg die Sünden der Welt.“
So, oder ähnlich, könnte ein Interview mit dem Künstler Matthias Grünewald wiedergegeben werden.
Angesichts der aktuell veröffentlichten Austrittszahlen von über 16.000 Katholik:innen in der Steiermark, lässt mich das nicht gleichgültig. Kann man angesichts dieser Zahlen einfach zur Tagesordnung übergehen? Nein! Die Gründe für das Verlassen der Gemeinschaft sind wahrscheinlich so vielfältig, wie die Anzahl der Ausgetretenen. Im 1. Petrusbrief heißt es: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt.“ (1 Petr 3,15b) Erlauben Sie mir daher die Frage an uns alle: „Sind Sie, bin ich, bereit auf diesen Jesus hinzuzeigen und denen, die nach unserem Glauben fragen, Rede und Antwort zu stehen?“
Die heutigen letzten zwei Verse des Antwortpsalms möchten dazu ermutigen:
„Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude, deine Weisung trag' ich im Herzen. Gerechtigkeit verkünde ich in großer Gemeinde, meine Lippen verschließe ich nicht; Herr, du weißt es.“ (Ps 40,9-10) Amen.