Alles beginnt mit der Sehnsucht
Welche Rolle spielt Weihnachten vielfach in der heutigen Gesellschaft?
Weihnachten als ein Dekorations- und kulinarischer Event, als Anlass für besondere Glanzpunkte musikalischer Färbung, wo das Lied „Last Christmas“ omnipräsent ist oder eine hervorragende Gelegenheit zu gut bürgerlicher Brauchtumspflege, oder gar der Seufzer der Kinder: „Wenn doch schon Weihnachten wäre ...“
Dahinter verbirgt sich aber mehr als all das, was die Leute am Umgang mit Weihnachten in der heutigen Gesellschaft gewiss zu Recht kritisieren, womit sie aber vielen ein bisschen die persönliche Stimmung, in einer, im Kleinen wie im Großen, verstörten Welt verderben. „Aber dann wäre doch Weihnachten“ – das scheint ein mir wesentlicher Punkt zu sein für eine vergrabene, verschüttete Sehnsucht!
Sehnsucht nach romantischen Kindheitserinnerungen, die die Seele streicheln, nach einer Krippen-Idylle, die das Miteinander ein wenig fördert? Oder Sehnsucht sogar nach mehr, nach etwas, was unser doch kleines Leben in einen größeren Zusammenhang stellt, ihm eine größere Tiefe gibt, ein tragfähiges Fundament verleiht? Ich möchte doch Letzteres annehmen – wenigsten für die immer kleiner werdende Bevölkerung, die heute Abend irgendeine Kirche besucht. Für Sie und für mich also auch. Sehnsucht aber hat ein Ziel, Sehnsucht verlangt nach einer Antwort. Doch ist das, was wir in unserer Kirche heute Nacht hier und überall tun, eine Antwort auf diese verborgene Sehnsucht in uns?
Was tun wir denn? Wir feiern einen Geburtstag, keinen urkundlichen, historischen, sondern einen symbolischen: den etwa 2022 Jahre zurückliegenden Geburtstag eines unscheinbaren Säuglings, geboren irgendwo in Palästina, aus ärmlichen Verhältnissen, bestenfalls aus verarmtem jüdischem Adel stammend, an dessen Anfang ein mehr als umstrittener König namens David steht, der dank seiner politisch geschickten und glücklichen Hand zum gemeinsamen König kleiner hebräischer Stämme geworden ist.
Was hat jener Säugling denn gebracht, dass wir seinen Geburtstag noch feiern sollten?
Die Antwort ist einfach und eindeutig: Er hat Gott gebracht! – eng verbunden mit unseren jüdischen Geschwistern im Glauben und doch ganz neu – so behaupten wir Christ:innen. Gott hat uns in ihm sein Gesicht gezeigt. Wer in das Gesicht dieses Krippenkindes schaut oder zum Angesicht des Gekreuzigten hinaufschaut, der blickt stets in das Angesicht Gottes. Jenes Gottes, den man bis zur Geburt Jesu zumeist in einen riesigen Götterhimmel verlegt hatte, jenes Gottes, den man bis dahin nicht so recht ausmachen konnte, dessen geheimnisvollen Namen das jüdische Volk kaum auszusprechen wagte, bis auf den heutigen Tag. Nun hat er sein Gesicht gezeigt in diesem Jesus, nun kann man Gott anrufen mit der Vertrautheit, die man mit jemandem teilt, den man gut kennt – so glauben wir Christ:innen.
Gott – das ist kein Geheimcode für eine Weltformel, die alles erklärt. Kein Name für eine alles durchwirkende und unvergängliche Energie. Gott – noch weniger ein hochgestylter Superman, der alle Fäden zieht oder einspringt als Lückenbüßer für alle Lücken, die wir Menschen nicht füllen können oder gar selber schlagen. Gott, der aber so groß ist, dass er alles umfasst, aber von nichts umfasst und noch weniger von jemandem erfasst wird, und Gott so klein, dass er im Kleinsten enthalten ist. Und weil dieser Gott Liebe ist, kann er uns nur als grundsätzlich freie Menschen wollen. Denn Liebe verträgt sich nur mit Freiheit. Darum hat er uns auch die Welt anvertraut, über-antwortet.
Dieser Gott macht sich menschlich. Weil wir von Gott nur auf menschliche Art etwas verstehen können, darum macht er sich uns menschlich verständlich, wird Mensch, wird Kind.
Mit einem Kind ändert sich schlagartig alles in einer Familie, in einer Beziehung. Das Leben läuft anders ab als bisher. Trotz aller neuen Herausforderungen, überwiegt aber normalerweise die Freude an dem Neugeborenen. Schaut man ins Kinderbett oder in den Kinderwagen, werden die Gesichter hell. Unsere Mienen verändern sich, wir reden auf einmal ganz anders. Den Augen eines Kindes kann man sich nicht entziehen. Ein Kind schafft den direkten Zugang zu den Herzen der Menschen. Das ist der „Trick“ Gottes, wenn man so will, seine Menschwerdung in dem Kind von Betlehem, um gewaltlos, unaufdringlich in die Herzen der Menschen vorzudringen. Um sich als Immanuel, als Gott mit uns, zu zeigen, als jener Gott, mit dessen Geisteskraft wir unsere Verantwortung für unsere kleine und große Welt wahrzunehmen vermögen.
Dafür unser Herz und unseren Verstand aufzutun, dafür uns neu zu sensibilisieren, geschieht dort, wo wir die vergrabene Sehnsucht in uns wahrnehmen, sie aufdecken, ihr auf den Grund gehen. „Denn alles beginnt mit der Sehnsucht.“ – meinte die große Lyrikerin Nelly Sachs. Amen.