Ich stell mir vor...
Stellen Sie sich vor: Es ist Pessach, und keiner geht hin!
Gestern Abend hat die Feier des Pessach-Festes begonnen, das gläubige Jüd/innen überall auf der Welt feiern. So auch in Israel, wo es wie in vielen Ländern derzeit strenge Ausgangbeschränkungen gibt. Das Pessach-Fest beginnt mit dem Seder-Abend, bei dem normalerweise die ganze Familie zusammenkommt. Heuer wird es nur im kleinsten Kreis gefeiert, ganz anders als sonst, aber es fällt nicht aus!
Diese Tradition geht zurück auf das Buch Exodus, wir haben in der ersten Lesung gehört, wie das erste Pessach – der Vorübergang des HERRN gefeiert wurde. Für das Volk Israel war dieser Abend die Vorbereitung auf den Auszug aus Ägypten, aus einem Leben ohne Würde und in Sklaverei, ein Aufbruch in die Freiheit.
So wie Jüd/innen im kleinen Kreis Pessach begehen, feiern auch wir heute in der Kapelle hier im kleinen Kreis die Feier vom Letzten Abendmahl miteinander und auch mit Euch allen, die Ihr nun über Facebook mit uns verbunden seid. Jesus hat mit seinen Jüngern Brot und Wein geteilt; wir haben es in der Lesung aus dem Brief an die Gemeinde in Korinth gehört.
Im Evangelium jedoch steht ein anderes Zeichen im Vordergrund: Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße! Er tut einen Sklavendienst an ihnen, und durch ihn und sein Beispiel wird diese Fußwaschung zu einem Liebesdienst. Auf diese symbolische Handlung müssen wir heuer verzichten. Aber auch, wenn wir es nicht leibhaft sehen und spüren können, begreifen wir trotzdem, was Jesus uns damit sagen will: es kommt auf die Liebe an. Gerade jetzt vermissen viele von uns schmerzlich die Nähe zu lieben Menschen, wir können Ostern sowohl in der Kirche als auch zuhause nur im kleinen Kreis oder gar alleine feiern. Aber es fällt deshalb nicht aus, so wie auch die Liebe nicht ausfällt – sie kennt keine Ausgangs- oder sonstigen Beschränkungen.
Mich hat diese Corona-Krise wie wohl Euch alle sehr nachdenklich gemacht, ich stelle viele Fragen und stelle vieles in Frage zurzeit. Nicht nur aufgrund kritischer Stimmen von „außen“ frage ich mich, was wir als Kirche in der aktuellen Situation beitragen können, um sie erträglicher zu machen. Was bleibt von unserem „Angebot“? Kirche heißt ja herausgerufen sein. Kann ich das auch, wenn ich drin bleiben muss? Yes, we can J Ich denke, wenn wir auf uns selbst zurückgeworfen sind, haben wir mehr Zeit für die Stille und die Beziehungspflege. Ich kann jemanden anrufen, eine E-Mail schreiben, vielleicht einen Brief oder Osterkarten. Und ich kann die geschenkte Zeit nutzen, um zu beten, mich vom Wort Gottes berühren und tragen zu lassen und meiner Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Vieles, das wir nun vermissen, war für die meisten von uns selbstverständlich: die gemeinsame Feier von Gottesdiensten in der Kirche, Familientreffen, Arbeitsbesprechungen, Treffen mit Freund/innen uvm. Wie kann ich mir gerade jetzt die Liebe im Herzen bewahren? Auch wenn wir an den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Problemen, dem Verlust von Arbeitsplätzen oder Gewalt in den Familien, die äußerst tragische Nebenwirkungen der Corona-Krise sind, nichts ändern können, ist jede/r von uns dazu berufen, Zeugnis für die Liebe Gottes in der unmittelbaren Umgebung zu sein. Ein gutes und tröstendes Wort zu geben oder sich schenken zu lassen, nicht den Mut zu verlieren.
Vielleicht hat der eine oder die andere von Euch schon einmal in der Osterzeit eine schwere Krise durchlebt und sie überstanden. Der Unterschied ist nun, dass die Krise alle in irgendeiner Form betrifft. Spannen wir Netze der Nächstliebe, lassen wir auch uns die Füße waschen! Wir feiern trotzdem Ostern, ganz anders, vielleicht auch bewusster. Denn Ostern und Auferstehung ist nicht nur in der Kirche: es ist in unserem Herzen, wenn wir es zulassen.
Ich stelle mir vor: Auch heuer wird Ostern. Gehen wir hin!
Amen.
Elisabeth Fritzl